Tracing vs. Tracking – Mikro vs. Makro: Digitale Corona Lösungen

April 22, 2021

Überraschend für viele hat die Deutsche Telekom, die ja auch mitverantwortlich für die offizielle Corona-Warn-App in Deutschland ist, im März 2021 eine Lösung zur Vermeidung und der Nachverfolgung von COVID-Infektionen für Unternehmen angekündigt.

Für mich kommt dieser Schritt nicht so unerwartet. Denn meine Kollegen bei Monstarlab Singapur haben bereits im ersten Halbjahr 2020 eine Corona Lösung gebaut, die ebenfalls nicht auf ein ganzes Land, sondern speziell auf Gäste der berühmten Parkanlage und Touristenattraktion “Gardens by the Bay” zugeschnitten war.

Zudem haben wir auch hierzulande fortgeschrittene Gespräche mit Unternehmen geführt, um Lösungen zum Schutz von Gästen und/oder Mitarbeiter:innen zu implementieren. Denn im Prinzip kann eine solche Lösung Unternehmen und Organisationen dabei helfen, wieder den Betrieb aufzunehmen und zu sichern. Eine erste Version einer Corona-Tracing Lösung kann man durchaus mit einem niedrigen sechsstelligen Budget für iOS und Android in drei bis vier Monaten bauen. Gerade für größere Unternehmen ist dieser Invest im Vergleich zu den Chancen einer Wiederherstellung der Geschäftsfähigkeit gering.

Mit diesem Artikel möchte ich eine Hilfestellung gewähren, verschiedene Lösungen einzuordnen und die dazugehörige Begrifflichkeit zu klären. Denn nach meiner Erfahrung werden in der Diskussion schnell Begriffe verwechselt oder fälschlicherweise synonym verwendet, was einer sachlichen Auseinandersetzung mit dem komplexen und (leider auch noch länger) wichtigen Thema nicht dienlich ist.

Tracing vs. Tracking

Um den Unterschied der beiden Begriffe zu verdeutlichen, möchte ich das Beispiel eines Lieferdienstes für Essen verwenden, wie wir ihn z.B. mit Careem Now, einem Tochterunternehmen von Uber, in vier Monaten auf die Beine gestellt haben. Wesentlich ist dabei, wie die Kundschaft ihre Mahlzeit “verfolgen” und “nachverfolgen” kann.

Tracking = Echtzeit-Einblicke in den aktuellen Zustand eines Objekts

In unserem Beispiel wäre das die aktuelle (“live”) GPS-Position des Fahrzeugs, das die bestellten Speisen zu Ihnen liefert, so dass Sie wissen, wo sich Ihre Lieferung gerade befindet und eine Vorstellung davon bekommen, wann sie bei Ihnen im Büro oder zu Hause ankommen wird.

Echtzeit-Einblicke in den aktuellen Zustand eines Objekts

Tracing = Retrospektive Einblicke in die vorherigen Zustände eines Objekts

In dem Lieferdienst-Beispiel würde Tracing bedeuten, dass Sie die Möglichkeit haben, nachzuverfolgen, wann die Bestellung eingegangen ist, wann die Speise in die Zubereitung ging, sie fertig und verpackt wurde, wer sie wann zur Lieferung abgeholt hat und so weiter. Eine Art Bestell- und Lieferhistorie.

Retrospektive Einblicke in die vorherigen Zustände eines Objekts

Ortsbezogenes (location-based) Tracing

Wir alle kennen die Zettelwirtschaft, die sich uns in den Zeit der wiedereröffneten Gastronomie darbot: Gäste mussten ihre persönlichen Daten in – oftmals für alle sichtbaren -Listen eintragen, so dass eine Nachverfolgung im Falle einer festgestellten Infektion eines Gastes möglich wurde und andere Gäste die zur gleichen Zeit am gleichen Ort waren, vom zuständigen Gesundheitsamt kontaktiert werden konnten.

location-based Tracing

Mittlerweile sind auch hier digitale Lösungen entstanden, von denen Nutzer:innen, Betriebe und Gesundheitsämter gleichermaßen profitieren können. Am bekanntesten dürfte die Check-in-App “Luca” sein – sicherlich auch dank der prominenten Unterstützung der Fantastischen Vier. Gäste können hiermit an Orten und Veranstaltungen (inklusive privater Treffen) mit Hilfe eines persönlichen QR-Codes einfach einchecken. Die übermittelten Daten werden anonym gespeichert und können – nur im Infektionsfall und nach Freigabe durch die Betreiber:innen – von Gesundheitsämtern abgerufen werden, um Infektionsketten zu unterbrechen. Während der Bund sich wohl noch schwer tut, eine einzelne privatwirtschaftlich entwickelte App zu unterstützen, ist die App auf den nordfriesischen Inseln Sylt, Amrum und (meiner 2. Heimat) Föhr “Luca” bereits offiziell im Einsatz, um einen möglichst (in vielerlei Hinsicht) sicheren Saisonstart bald zu gewährleisten.

Nähebezogenes (proximity-based) Tracing

Während sich ortsbezogenes Tracing darauf konzentriert, wo sich jemand aufhält, konzentriert sich nähebezogenes (proximity-based) Tracing darauf, wer sich in der Nähe befindet. Prominentestes Beispiel hierzulande ist sicherlich die offizielle Corona-Warn-App, die einer Bitkom-Studie zufolge jeder Dritte nutzt und trotz höchstmöglichem Datenschutz noch immer auf Bedenken stößt.

Das Konzept besteht darin, dass das Smartphone im Hintergrund Geräte in der Nähe registriert, indem es Technologien wie Bluetooth verwendet und dann nicht nur protokolliert, wer sich in der Nähe befand, sondern auch eine Schätzung abgibt, wie nahe und wie lange sie in der Nähe waren. Die Automatisierung dieser Protokollierung auf Geräten, die so viele Menschen bereits mit sich herumtragen, hat ein enormes Potenzial, die Infektionskette bei einer Pandemie zu unterbrechen.

Nähebezogenes (proximity-based) Tracing

Das Potenzial und die Wichtigkeit führte sogar zu einer Zusammenarbeit zwischen den beiden Schwergewichten Google und Apple, um gemeinsam ein Protokoll für die Bluetooth-basierte Kontaktverfolgung über ihre jeweiligen Plattformen zu erstellen. Die “Exposure Notification”-Lösung wurde bisher jedoch nur für Regierungen, Gesundheitsbehörden und NGOs freigegeben.

Gerade Apple geht bei Corona-Tracing-Apps sehr restriktiv vor und verlangt im Review-Prozess anhand eines Fragebogens detaillierte Auskunft zu Sinn und Zweck der Anwendung. Die Fragen drehen sich um die Bereiche: erforderliche Zugriffe (GPS, Bluetooth, Kontakte, …), den Umgang mit persönlichen Daten, Autorisierung durch Behörden, eine beabsichtigte Nutzung der Exposure Notification API und was mit der App nach einem möglichen Ende der Pandemie passieren soll.

Mikro vs. Makro

mikro vs. makro

Makro-Lösungen

Die bekannten Corona Apps sind für den Einsatz in großem, nationalen Maßstab gemacht. Die potenziellen Vorteile dieser Makro-Lösungen wie Reichweite, Datenbasis, einheitlicher Datenschutz und Vertrauen können entscheidend für die Effektivität der Covid-Bekämpfung eines Landes sein. Aus der hohen potentiellen Reichweite ergeben sich jedoch auch Probleme. Der Erfolg dieser Lösungen ist davon abhängig, eine Massenakzeptanz zu erreichen. Dies kann sich in großen Populationen als schwierig erweisen, da der Nutzen für den Einzelnen vage und die Auswirkungen abstrakt werden. Auch müssen Lösungen teilweise auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner konzipiert werden. Beispielsweise haben gerade ältere Bevölkerungsgruppen aber oft kein Smartphone oder laden sich selbst keine Apps herunter. Gerade diese Gruppe ist aber gefährdet.

Anderes Beispiel: Singapur war zwar eines der ersten Länder mit einer Corona-App, allerdings waren zunächst Touristen durch die Notwendigkeit einer lokalen Handynummer ausgeschlossen, sodass meine Monstarlab Kolleg:innen vor Ort dabei halfen, die bestehende Besucher-App der Touristenattraktion Gardens by the Bay um eine Tracing-Funktion zu erweitern. Mitten im Freigabeprozess zog die offizielle, landesweite App allerdings diese Funktion nach und so verzichtete man darauf, die lokale Tracing-Lösung in die Gardens by the Bay App zu integrieren. Naturgemäß stoßen nationale Lösungen in internationalem Kontext (wie z.B. Tourismus) schnell an ihre Grenzen. Immerhin sind laut EU Kommission aber mittlerweile die Hälfte der offiziellen Apps Europas interoperabel. Lediglich Frankreich und Ungarn bleiben technisch aufgrund ihres gewählten zentralen Ansatzes dauerhaft dabei außen vor.

Mikro-Lösungen

Mikro-Lösungen auf der anderen Seite fokussieren auf einen lokal stark begrenzten Einsatz, beispielsweise an Arbeitsplätzen, Produktionsstätten, in Altenheimen, Restaurants, Flughäfen, Zügen, Themenparks, Hotels, Krankenhäusern und Museen. Sie lassen sich nicht nur spezifischer als Makro-Lösungen konzipieren und einsetzen sondern können auch zu Akzeptanzraten von an die 100% führen. Warum? Das liegt an der granularen Kontrolle der Umgebung, in der sie eingesetzt werden, kombiniert mit einer unmittelbaren Beziehung zu den Nutzern (z.B. Mitarbeiter:innen oder Gäste). Mikro-Lösungen können dadurch einen erheblichen Mehrwert für Organisationen bieten und auch durch die Bündelung mit weiteren digitalen Diensten (wie Ticketing oder Gesundheitsdiensten) mehr Relevanz für die Nutzer:innen erlangen.

Genauso wie Unternehmen beispielsweise Hygienemaßnahmen ergreifen oder aktuell auch für Tests und Impfungen sorgen sollen, kann es für sie daher durchaus Sinn machen, über Mikro-Lösungen nachzudenken und sich hier nicht nur auf die offizielle App, die im Zweifel im konkreten Kontext nur stark begrenzt funktioniert, zu verlassen.

Mikro-Lösungen für Unternehmen während Corona

Unternehmen sehen sich bei ihrer COVID-Reaktion mit drei Kernproblemen konfrontiert. Diese unterscheiden sich nicht grundsätzlich von anderen Gesundheits- und Sicherheitsproblemen, aber der Impact einer Nichteinhaltung hat deutlich größere Auswirkungen:

Die drei Kernbereiche sind:

  1. Erfüllung der gesetzlichen Anforderungen
  2. Schutz der Mitarbeiter:innen
  3. Schutz der Kundschaft

Eine effektive COVID Track-and-Trace-Lösung im Mikromaßstab kann ein wichtiges Werkzeug sein, die Betriebs- und damit Lebensfähigkeit des Unternehmens in diesen Zeiten sicherzustellen.

Fazit & Ausblick

Kommen wir zum Eingang dieses Artikels zurück und ordnen wir die Telekom-Lösung zum Abschluss in die Systematik ein und wagen einen Ausblick.

Ohne Zweifel handelt es sich bei der Telekom-Lösung um eine Mikro-Lösung, da der Einsatzzweck auf einzelne Unternehmen abzielt und als B2B-Lösung vertrieben wird. Die angekündigte Lösung enthält dabei sowohl eine Tracking- als auch eine Tracing-Komponente: Der “SafeTag” ist ein kleiner anonymer Tracker, der z.B. als Armband getragen werden kann. Er soll Abstände zu anderen SafeTags in Echtzeit messen (“tracken”) und warnen, wenn der Tracker einem anderen Tracker gemäß Abstandsregeln zu nahe kommt. Die Tracing-Komponente wird über eine App ergänzt: Um eine Verfolgung von Kontaktpersonen zu ermöglichen, wird ein QR-Code auf dem Tracker zu Beginn der Schicht oder des Events mit der Smartphone-App gescannt. Dadurch ist das Smartphone mit dem Tag gekoppelt. Das Gerät entkoppelt sich automatisch, wenn es nach der Arbeit oder dem Event in die Ladestation zurückgelegt wird. Gibt eine Kollegin oder ein Gast über die App einen positiven Corona-Befund ein, können alle Risikokontakte über die App gewarnt werden. Ein Mitführen des Smartphones während der Zeit des Tracings ist also nicht notwendig, was die Akzeptanz der Lösung in Betrieben erhöhen dürfte. Vermutlich hat die Telekom Apple bereits davon überzeugen können, die App später auch freizugeben, obgleich sie keine von der Regierung autorisierte Lösung ist.

Wie sieht der Ausblick aus?

  • Mikro vs. Makro: Während Makro-Lösungen sicherlich weiterentwickelt werden (insbesondere Ausbau von Features und der Interoperabilität) kann erwartet werden, dass sich das Augenmerk zunehmend den neuen Markt von Mikro-Lösungen richten wird. Die oft unzureichende Nutzerakzeptanz von Makro-Lösungen in Kombination mit den Grenzen dieser Lösungen in spezifischen Kontexten (z.B. Produktionsstätten behindern BLE Signal oder internationale Nutzer) auf der einen Seite sowie die Möglichkeiten von Mikro-Lösungen viel mehr Relevanz der Lösung für den einzelnen und damit eine signifikant höhere Nutzungsbereitschaft zu erzeugen sind dafür wesentliche Gründe. Unternehmen werden ihrer Verantwortung mehr und mehr selbst gerecht werden wollen, ihr Geschäft, ihre Mitarbeiter:innen und Kund:innen auf intelligente Art und Weise zu schützen. Und Mikro-Lösungen können dabei zu einem wesentlichen Element für Öffnungsstrategien werden.
  • Tracking vs. Tracing: Digitale Lösungen zum Bekämpfen von Pandemien setzen schwerpunktmäßig auf Tracing und das Nachverfolgen von Infektionsketten. Ein Tracking von z.B. Abstandsregeln kann zwar Infektionen vermutlich verhindern und ist auch einfacher zu verstehen als Tracing-Lösungen, dürfte aber auch zu weiteren Datenschutz-Bedenken bei den Nutzern aufgrund des Echtzeitcharakters führen. Dennoch können beide Ansätze dabei helfen, Pandemien zu bekämpfen, so dass der kombinierte Einsatz reizvoll erscheint.

Ob Mikro oder Makro, ob Tracing oder Tracking: Alle Lösungen müssen ein Gleichgewicht zwischen der Benutzerakzeptanz, dem Datenschutz, dem technisch Machbaren, den Interessen des Unternehmen/des Staates und den Auswirkungen der Lösung unter Berücksichtigung der lokalen Gesetze und der Gesellschaft finden. Ich bin auf die weitere Entwicklung gespannt.

 

 

Author

Martin Kahl

Martin Kahl

Managing Director

Monstarlab Deutschland

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